Erstbegehung – „Zauber der Vergänglichkeit“

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Unterwegs sein bedeutet oft Inspiration und Quelle neuer Ideen. So schweift der Blick oftmals weg von der Spur des Alltäglichen und sucht in der Umgebung umher nach Möglichkeiten für neue Herausforderungen und Wege im Leben. Während für Klettereien im Fels viele Tage im Jahr zur Verfügung stehen, bleiben bei Eisspuren und besonders für Eislinien in Südwänden meist nur winzige Zeitfenster zum Klettern. Bei der Entdeckung von Eis entsteht in unserer Klimazone und –erwärmung deswegen im gleichen Augenblick die Frage nach dessen Vergänglichkeit. Die Dringlichkeit einer Handlung ist bei südseitigen Eislinien durch die womöglich sehr kleine Dauer der Existenz stark erhöht.

„…bei einer Erstbegehung im Eis in einer winterlichen südseitigen 550 m-Wand aus Kalkgestein müssen schon sehr viele Faktoren zusammenpassen, […] „

Wenn Sonntagabend Timo die SMS tippt: „Dienstag Eis-Erstbegehung? Super Linie!“, dann war mir klar, das wenig zeitlicher Spielraum vorhanden ist. Hinzu kommt, dass unsere Verpflichtungen des Alltags spontane Ambitionen, das Flanieren auf neuen Pfaden oder eben tagesfüllende Aktionen wie diese immer schwieriger machen. Bei dem Versuch einer Erstbegehung im Eis in einer winterlichen südseitigen 550 m-Wand aus Kalkgestein müssen schon sehr viele Faktoren zusammenpassen, um einen realistischen und wohl überlegten Versuch zu wagen und die große Verantwortung mittragen zu können. So braucht es also zumindest 2x (Zeit+Motivation+Vertrauen+Gesundheit+Fähigkeiten) + optimale Temperatur+Strahlung+Eis- und Schneeverhältnisse, um in dieses Abenteuer starten zu können.

Eine gewissenhafte Tourenplanung ist bei solch einer Unternehmung für uns selbstverständlich, die dann auch schnell und eindeutig ergab: Mist, Dienstag ist zu warm und zu sonnig! Aber: Die Wettervorhersage für Mittwoch wäre optimal Unsere Motivation war stark genug, alle Termine und Verpflichtungen so zu biegen, dass wir, Timo und ich, am Mittwoch um 05.00 Uhr im Auto sitzen und gemeinsam ins Tennengebirge fahren konnten.

 

Mit den Tourenski gelangten wir schnell an den vom Sonnenaufgang gerade blutorange gefärbten Wandfuß. Raus aus den Skischuhen, rein in die Bergschuhe, ein letzter prüfender Blick in den Himmel, ob auch wirklich die angekündigten Wolken kommen, eine kurze bestärkende Diskussion über unsere Einschätzung der aktuellen Situation und schon fanden wir uns nach kurzer Stapferei am Einstieg dieser gewaltigen Linie. Timo startete beherzt in die erste Länge. Die Schwierigkeit der Kletterei und die vorherrschenden Verhältnisse nahmen sich die Zeit, die für ein solides Klettern benötigt wurde. Es zeigte sich schnell, dass es wohl länger dauern würde als gedacht.

„…vereiste Wasserrillen, Glasuren wie aus Zuckerguss, mal mehr, mal weniger Eis, dazwischen kombiniertes Graspolstermosaik und Schneeeinlagen von trittfest bis wühlbar weich… genial“

Da die Sonne perfekt von den Wolken verhangen war und es wohl nicht zu warm werden würde, entschieden wir, in sich gegenseitig beflügelnder Seilschaftsperformance weiter zu gehen. Timo jauchzte somit Länge für Länge solide hinauf und durfte kreativ die Stände in die Felsnischen zimmern. Ich kletterte zügig hinterher und war dabei nicht weniger begeistert. Die Kletterei war genial anregend abwechselnd, tolle Eis-Fels-Verschneidungen, für uns noch nie dagewesene vereiste Wasserrillen, Glasuren wie aus Zuckerguss, mal mehr, mal weniger Eis, dazwischen kombiniertes Graspolstermosaik und Schneeeinlagen von trittfest bis wühlbar weich. Und das alles auch noch gut abzusichern. Mixedklettern à la carte.

Es fühlte sich alles so stimmig an. Es war wie verzaubert, das Wetter hielt, was es versprach, die Linie entpuppte sich als eine großartige Kletterei und wir kamen flüssig voran, auch wenn langsamer als erwartet.

„Ein Augenblick zauberhafter Vergänglichkeit.“

Beim Ausstiegsfinale aus der Tour wurden wir zu unserer Begeisterung von einem hell erleuchteten Mond- und Sternenhimmel begleitet. Bei besten Schneeverhältnissen stapften wir im Schein des Mondes über das in winterliche Stille erstarrte Tennengebirge. Und selbst bei der Abfahrt durften wir noch ein paar Schwünge in den im Stirnlampenlicht funkelnden Pulverschnee zeichnen – einfach unglaublich. Als wir wieder zurück ans Auto kamen, war es bereits 22.00 Uhr. Aber was sind schon 14 Stunden im Flow? Ein Augenblick zauberhafter Vergänglichkeit?

Gerade beim Eisklettern erfährt man sehr eindrücklich das Spiel der Endlichkeit. Das so voller Lebendigkeit fließende Wasser ändert seinen Zustand und erstarrt plötzlich zu fragilen Gebilden der Vergänglichkeit. Der Moment scheint wie eingefroren, wir halten uns an ihm fest und wünschen uns innig er währte ewig. Doch wie der Moment fängt auch das Wasser irgendwann wieder an zu fließen, verändert sich oder vergeht. Das Vergängliche ist somit auch ein Segen der Zeit. Jedes (Er)Leben bedeutet gleichzeitig ein Vergehen. Nur ein Hauch der Erinnerung an den „Zauber der Vergänglichkeit“ vorbeigeflossener Zeit wird wohl ewig bleiben.

Danke Leben, für diese wundervollen Märchen, die du uns erzählst. Wir werden dir lauschen, bis du in Seligkeit in uns verstummst.

Infos

Erstbegehung  „Zauber der Vergänglichkeit“, 640m, WI 5+, M4
Erstbegehung Felix Autor, Timo Moser 19.12.2018 (9,5 h)

Eine äußerst abwechslungsreiche und geniale kombinierte Eisroute auf das Hochbrett (2312 m). Die süd-exponierten Gamsmutterwand bildet den imposanten knapp 550 m hohen Talschluss des Gamsmutterkas im Tennengebirge, welches am Ende des Lammertals liegt. Die Route verläuft entlang der Südwandrampe in der Gamsmutterwand. Vergänglichkeit der Verhältnisse und hochalpines, sportliches Abenteuer im Tennengebirge garantiert.

>Topo

Routenverlauf Die Route verläuft entlang der sogenannten „Südwandrampe“ von A. Precht und H. Neumayer 1975 – in den unteren zwei Dritteln entlang einer Südost ausgerichteten, vereisten Verschneidung. Oberes Drittel ist eine etwas zurückgelehnte schneeig-eisige Schrofen-Rampe.

Seillängen
100 m 50° stapfen, dann 14 Seillängen 640 m mit Schwierigkeiten bis WI 5+, M4
120m 3 SL (SL 1-3) WI 5+ untere Verschneidung an Glasuren und Eisschildern
100 m 1 SL (SL 4) leichtes Schneestapfen
120 m 3 SL (SL 5-7) WI 5+ obere Verschneidung an Glasuren, Graspolster und ein Abschluss-Eisschild
300 m 7 SL (SL 8-14) etwas flacheres, kombiniertes Gelände über eingeschneite Platten und vereistes Schrofen-Gelände sowie Stapfen M4, WI 4+

Absicherung nichts belassen außer einem Abseilstand beim Abstieg, Standplätze immer solide im Fels und oft in Nischen gemacht, Zwischensicherung meist am Fels und teils im Eis gut möglich

Verhältnisse Eis oft dünn aber meist gut, teils abgehobene Glasuren, in den Zustieg-, Mittel- und Ausstiegslängen Schnee (Spindrift bei Neuschnee!), Südseitig exponiert (schnell wechselnde Verhältnisse!), Einstieg ca. auf 1650m, Route braucht davor einige konstant wolkig kalte Tage mit Schneedepots als Wasserlieferant. Zwei Sonnentage davor war bei uns gut für Setzung der Schneeseillängen sicherlich mitttelgut für Glasuren (im Dezember ok – Sonnenstand). Webcam im Skigebiet Werfenweng mit Archiv und Wetter-Datenaufzeichnungen hilfreich zum Abschätzen der Verhältnisse und der Wetterhistorie.

Zustieg mit Ski unschwierig ca. 1,5 h

Abstieg (siehe Foto) unschwierig, aber Schnee- und Orientierungsabhängig bzw. oft > 35° Gelände (Lawinengefahr! Stapfen = große Zusatzbelastung!) in Osthängen zwischen Grieskogel und Augstein, 1x 40m Abseilen an Köpflschlingen, Abstiegszeit bis Depot ca. 1,5-2 h

Material
2x 60m Halbseil
1x Totem Friends #0,5 – #1,8 (7 Stück) möglichweise mittlere Doppelt sinnvoll
2x C3 #000 und #00
2x Metolius Offset Cams 00/0 und 0/1
1x Klemmkeilsatz
1x Schlaghakensortiment jeweils 1x (Knifeblade, Fichtl-, Profil-, Drehmoment-Haken)
2x BD-Pecker
4x 10cm Eisschrauben
3x 13cmEisschrauben
2x Eissanduhrenschrauben + Fädler
+Standard Eis- und Bergausrüstung

Literatur
Tennengebirge AV-Führer von Albert Precht (leider vergriffen)
Topo – „Zauber der Vergänglichkeit“

 

Gallerie